Ich heisse Brandon.
Jamie hat mich gebeten, hier etwas über mich zu erzählen. Also, ich trage meine schwarzen Haare lang, obwohl sie mich im Heim manchmal damit aufziehen, ich sei ein Mädchen. Aber meine Haare sind mir heilig, sie müssen lang sein, weiss auch nicht warum, ist einfach so. Und ich habe viele Muskeln und bin stark und richtig hübsch, das weiss ich auch. Wenigstens etwas, worauf ich stolz bin und an mir selbst ein bisschen Freude haben kann. Aber so wie Jamie vor den Spiegel stehen und mich selbst umarmen, auf die Idee wäre ich nie gekommen.
Mehr weiss ich nicht. Ich kann halt nicht so gut erzählen wie Jamie. Er kann auch gut schreiben, ich nicht. Ich kann dafür zeichnen und er nicht. Er schwätzt andauernd, ich fast nie, ausser mit ihm. Er besteht fast nur aus Gefühlen, ich hatte überhaupt keine, bis er sie mich lehrte. Seither weiss ich, wie es sich anfühlt, wenn man geliebt wird. Vorher habe ich nicht mal gemerkt, dass mein Heimleiter und auch der Gruppenleiter mich mögen, weil ich nämlich Angst vor Erwachsenen habe. Jamie hat mich sogar gelehrt zu weinen, weil der heult andauernd. Ich glaube, als dieser Unfall passierte, ich glaube, wenn ich nicht hätte weinen können, wäre ich vor Kummer gestorben.
Was soll ich sonst noch über mich erzählen? Keine Ahnung. Ich wäre niemand ohne Jamie, obwohl er behauptet, dass das nicht stimmt.
Ich war völlig allein auf dieser beschissenen Welt. Keine Eltern, keine Verwandten, keine Familie. Niemand. Nur Leute, die dafür bezahlt werden, damit sie sich um mich kümmern. Ich hatte daran gedacht, mit Atmen aufzuhören und am Morgen nicht mehr aufzustehen, weil ich mich sowieso tot fühlte. Weil's sowieso niemanden interessierte, ob es mich gab oder nicht. Aber dann kam Jamie eines Nachts im Traum zu mir und hat mich Joey genannt. Das sei mein Seelenname, hat er gesagt. Ich hatte gar nicht gewusst, dass es sowas gibt. Aber ich habe sofort in mir drin gespürt, dass er recht hat. Seither will ich nicht mehr sterben, seither bin ichJoey, aber nur für ihn. Ich lasse niemanden so nah an mich ran wie Jamie. Wenn mich sonst jemand Joey nennt, hau ich ihm eine in die Fresse. Aber ich muss aufpassen, dass ich nicht wütend werde, weil dann verliere ich manchmal die Kontrolle, und ich hab schon Leute fast umgebracht dewegen. Das will ich aber nicht.
Jamie und ich haben festgestellt, nachdem wir uns kennengelernt hatten, dass wir schon immer zusammen gewesen sind, aber wir haben nichts davon gemerkt. Durch unsere Verbindung haben wir uns schon gegenseitig das Leben gerettet, ohne dass wir es gemerkt hatten, bevor wir uns überhaupt erst bewusst kennengerlernt haben. Eigenartig, nicht wahr? Inzwischen können wir einander die Gedanken lesen und die tiefen Geheimnisse in der Seele des anderen aufspüren. Jamie ist in mir drin und ich in ihm. Das kann niemand verstehen, aber das muss auch niemand wissen. Nur Kevin, der hat's gemerkt, und Jamies Grossvater und sein Dad auch.
Aber das Beste war, als ich wirklich durch die Hölle gegangen bin, als ich in diesem Wald innerlich und äusserlich zerstört am Boden lag und nur noch darauf wartete, zu sterben, und nur Jamies Beharrlichkeit und Liebe mich aus diesem Drecksloch wieder rausgeholt hat, obwohl er dabei fast selbst draufgegangen wäre.
So, jetzt weiss ich nichts mehr. Fragt den Kleinen, wenn ihr etwas über mich wissen wollt. Er weiss alles über mich. Und sonst kann er selber in meinem Kopf nachschauen. Er hat Sachen über mich in mir entdeckt, die ich selber nicht mehr wusste. Aber alles wird er euch nicht erzählen, es gibt ein paar Sachen, die wir für uns behalten. Ist doch logisch, oder? Ihr zieht euch ja auch nicht vor allen Leuten nackt aus. Jamie hat da zwar, wenn man es wörtlich meint, keine Hemmungen, aber das ist wieder was anderes.
Doch, etwas fällt mir noch ein. Als wir endlich herausgefunden hatten, warum wir so verbunden sind, das war ... das war einfach unglaublich. Das hat alles verändert. Aber für Jamie wars am Anfang ziemlich krass. Für ihn stürzte die ganze Welt zusammen. Und als er dann noch glaubte, ich sei tot, aber dieses Mal richtig, wärs mit ihm fast vorbei gewesen. Der war schlimmer dran als ich damals. Zum Glück konnte ich ihn vor einer schrecklichen Dummheit bewahren. Bei all dem, was wir erlebt hatten, können wir uns beide nicht erklären, warum er meinen Brief dermassen missverstanden hatte.
Doch als wir schliesslich Kevin aus dem Gefängnis holten, war die Welt endlich in besserer Ordnung, als sie es vorher gewesen war.
Manchmal führt der Weg in den Himmel durch die Hölle. Das ist ein Spruch von Norman.
Ach ja, der alte Norman, den werdet ihr noch früh genug kennenlernen.